In der Ems-Zeitung (im September 2011) beantwortet Winfried Breidbach die Frage des Lesers Hermann Eissing nach dem Ursprung seines Familiennamens mit dem Beitrag "Der Eissing war der Sohn des Eise". Der Artikel erinnert mich daran, eine andere Interpretation vorzulegen. Als ich 1969 vom Obenende auf das Gymnasium Papenburg kam, da war das wie ein Eintritt in eine ganz neue und andere Welt. Ein seltsamer Haltepunkt war das erste Jahr Latein bei Hilling. Die Lehrmethoden dieses Lehrers waren so, dass wir heute jungen Menschen kaum noch glaubhaft von dieser Zeit erzählen können. Aber Hilling legte Grundlagen und beeindruckte mich damit, dass wir mit Bleistift, der genau eine bestimmte Stelle auf dem Tisch neben dem Anspitzer und dem Radiergummi einzunehmen hatte, im Geschichtsatlas von Westermann (oder war es Putzger?) Jahreszahlen zur mittleren und jüngeren Steinzeit korrigieren mussten. Die Zahlen seien falsch. Eines Tages überraschte uns Hilling mit einer Namensdeutungsrunde und als Eissing kam ich gut dabei weg: Silbe Eis, dann Lautverschiebung, Asko, Aisiko, und Asikingthorpe. Also irgendwas mit der Gründung von Aschendorf. Mit dieser Deutung war ich gut zufrieden. Der Name "Eis" war alt und schien eine ortsbezogene Bedeutung zu haben. Dennoch habe ich in all den Jahren seit meinem ersten Jahr Latein weiteres Material und Hinweise gesammelt.
Der Ortsbezug des Namens Eissing hat sich immer wieder bestätigt, allerdings anders, als es der ursprüngliche Verweis auf Aschendorf vermuten ließ. Eins zeigte sich sehr schnell in meinem beruflichen Leben. Der Name Eissing begegnet einem nur hin und wieder. Und die Gesprächspartner stutzen. Irgendeinen Eissing kennen sie, sei es ein Lehrer, der sich tief in die Erinnerung eingegraben hat, sei es Schiffszubehör, Buchhandel oder auch ein Pressesprecher einer Universität oder eins Bischofs. Dann wieder freut sich jemand bei der ersten Begegnung, die beste Freundin seiner Mutter sei eine Eissing. Ich ahne bereits, dass dies nicht nur ein gutes Zeichen sein muss. Denkwürdig wiederum war die Begegnung mit dem alten Steenken in Aschendorfer-Moor. Ich, als Volkszähler Mitte der 80er Jahre unterwegs, hab’ an seiner Tür meinen Spruch aufgesagt. Er, weit über 80 Jahre, fragt: "Du bist doch einer von Gerd Eissing." "Nein, Gerd ist mein Onkel. Mein Vater ist Heinrich!" Aber Steenken bleibt stur: "Nee, du bist einer von Gerd Eissing, Lüchtenburg." Da endlich hatte auch ich begriffen. Steenken redete nicht von meinem Vater oder Großvater. Er sprach von meinem Ur-Großvater. Dann wieder begegnet mir Eising gleich beim Kölner Dom um die Ecke. Neben St. Ursula findet sich die "Schreckenskammer", eine jener urgemütlichen Kölsch-Kneipen. Bei einem Besuch entdeckte ich die an die Wand aufgehängte Geschichte des Hauses. Siehe da, vom 28.07.1674 war das Haus "für Zins verfallen an Heinrich Eising, Procurator Curiae Episcopales" und ging am 8.8.1690 zurück an die Wirtsleute.
Während im Nordwesten Deutschlands sich die Zuordnung der Eissings noch oft verwandtschaftlich klären lässt, zeigt die Verteilung des Namens von Nordwesten (Emsland und Münsterland) bis nach Süddeutschland, stark auf der westlichen Seite, weniger verbreitet auf der östlichen Seite, ein Muster, das jede Erklärung nach einem ganz bestimmten Ort oder einer bestimmten Familie unwahrscheinlich werden lässt. Auffällig ist, dass der Lautwert des Namens nicht einfach ist. Das "Ei" am Anfang, gefolgt vom einem "sz" und dann der Abschluss mit einem eher nach "k" als nach "g" klingenden "ing", machen Probleme. Die Süddeutschen lösen das Problem, indem sie das "sz" in Mitte durch ein rundes "s" ersetzen und am Ende ein "er" anhängen. "Eisinger", das klingt wieder rund und hat eine unserem Sprachempfinden geläufigere Schwingung. Die heute noch vorhandenen Schreibweisen des Namens sind: Eissing, Eising, Eißing, Eyßink. Besonders die beiden letzteren Schreibweisen kommen dem gesprochenen Lautwert sehr nahe. Unter http://www.verwandt.de lassen sich dann mit Sicherheit noch weitere Schreibweisen des Namens finden. Auch ist der Name in anderen Ländern wie Polen, der Schweiz und den Niederlanden zu finden. Es gibt auch die Schreibweise Eysenck, der berühmte Psychologe, der 1934 von Deutschland nach London auswanderte. In den "Erzählungen der Chassidim" von Martin Buber kommen an zwei Stellen Geschichten von Rabbi Eisik zu Wort. Wohl eine Ableitung von Isaak. Aber im Gedenkbuch der Opfer der Verfolgung der Juden kommen die Namen Eising und Eisinger vor. Interessanter Weise macht übrigens die Aussprache des Namens im englischsprachigen Kulturraum keine Probleme, denn "Eissing" klingt irgendwie ähnlich wie "I think" mit schlecht gesprochenem "th", also perfektes Amerikanisch. Dann sollte ich auch noch anmerken, dass es im Eishockey einen unerlaubten Weitschuss gibt, den Eising ("Icing"), der mit einem "Bully" geahndet wird.
Die geographische Verbreitung des Namens zeigt, dass Lehrer Hillings Verweis auf das Asikingthorpe (Aschendorf) nicht ausreicht. Eissings gibt es an vielen Orten und oft gibt es dort auch Hinweise auf Flurbezeichnungen. Hans Bahlow hat in seinem Deutschen Namenslexikon nur die Variante Eising(er) aufgeführt, aber eben eingestuft als Ortsnamen. Wer, wie ich das Glück hat, viel im Außerdienst unterwegs sein zu dürfen, der lernt mit den Fahrten auch das, was man früher Heimatkunde genannt hätte. Eissing begegnet einem auf den Straßenkarten und Wegweisern immer wieder. Bei Leer auf dem Weg nach Aurich finden wir am Ortsausgang den Hinweis auf Eisinghausen. Bei Legden im Münsterland haben die dortigen Eissings gleich eine eigene Straße mit Wald. Seltsamer ist es dann schon, wenn in den Flurkarten zwischen Bayreuth und Nürnberg zwei große Flurbereiche als "Eissing" und "Eissingsgrund" ausgewiesen sind. Nehmen wir dann eine Karte von Europa in die Hand, dann zieht sich die Flurbezeichnung "Eissing" bis nach Ostpreußen, wo es einen See Eising in der Masurischen Seenplatte gibt. Patronymische Namensgebung hilft da als Erklärungsansatz erstmal nicht weiter. Es sei denn, dass die Eissings an den verschiedensten Orten jeweils so bekannte Persönlichkeiten hervorgebracht hätten, dass Straßen, Flurgemarkungen oder sogar Seen nach ihnen benannt werden mussten. Das wiederum ist unwahrscheinlich, und die Flurgemarkungen bei Bayreuth liegen ganz gewiss "in the middle of nowhere“.
Von Westeuropa aus bis nach Ostpreußen taucht der Name Eissing eben nicht nur als Familienname, sondern auch als Orts-, Flur- und auch Gewässer-Name auf. Wenn aber nicht patronymische Namensgebung, welchen anderen Ansatz gibt es dann? Es gibt einen Beitrag in "Emsländische Geschichte" (Bd. 5, S. 167), in dem Clemens Honnigfort neue Deutungen für die Ortsnamen im Emsland vorlegt. Ausgangspunkt sind die Arbeiten von Hans Bahlow, der nach langer Forschung zu der Auffassung kam, dass viele alte Ortsnamen tatsächlich Wasserbezeichnungen wie Bach, Fluss, See, Tümpel, Morast usw. sind. Bahlow spricht von "vorgeschichtlichen Wasserwörtern". Dieser Beitrag wird von Heimatforschern nicht gern gesehen, da er den üblichen namenastrologischen Deutungen wenig Spielraum lässt. Auch 1996 stieß der Abdruck des Artikels nicht nur auf Gegenliebe.
Für mich standen Bahlows vorgeschichtliche Wasserwörter lange unvermittelt im Raum, bis ich im Mai 2002 auf einen Aufsatz in Spektrum der Wissenschaft stieß. Die Autoren Elisabeth Hamel und Theo Vennemann berichten dort über das Thema "Die Ursprache der Alteuropäer", Vaskonisch, also Baskisch. Der Inhalt des Berichts lässt sich auf folgende Grundformel bringen: Während der Eiszeit war Europa nur im heutigen Südwest-Frankreich und Nordost-Spanien, also dem Baskischen Raum, bewohnbar. Die berühmten Höhlenmalereien von Lascaux und Altamira zeugen noch heute von der spirituellen und künstlerischen Kraft dieser Menschen. Auch der Pilgerort Lourdes liegt in dieser Gegend. Europa ist mit dem Ende der Eiszeit von diesem Raum her besiedelt worden. Die Spuren und der Verlauf dieser Besiedlung sind in bestimmten markanten Silben der alten Orts- und Flurnamen noch heute nachzuweisen. Es geht um "Gewässernamen mit den Bausteinen ur (aur), var (ver), sal (salm) oder al (alm). Ur bedeutet ,Wasser’', ura ',das Gewässer, der Bach’. Für al und sal sind ähnliche Bedeutungen postuliert worden". Das erste Schlüsselwort der beiden Forscher aber ist is (eis): "Eins davon ist das Element is (auch als eis wiederzufinden), das in mehr als 200 Gewässernamen von Norwegen bis Italien, von Spanien bis weit nach Russland hinein; von Großbritannien bis in den Balkan vorkommt. … Das baskische Element iz (mit scharfem s gesprochen) bedeutet ''Wasser, Gewässer''." Auch mit den Verfahren der Gen-Analyse kann heute die Besiedlung Europas am Ende Eiszeit ausgehend vom Baskenland nachgezeichnet werden. Interessant an dieser Lesart ist, dass die Silben is und eis gleichzusetzen sind und für Plattdeutsch-Hochdeutsch Sprechende ist das ja selbstverständlich, denn Eis wird Is gesprochen. Folgen wir dieser Spur, dann sind auch die Namensvarianten von Issing (z. B. der Ottmar Issing des Euro) namenstechnisch Eissings. Und in der Tat zeigt sich unter http://www.verwandt.de für diese Namen ein ähnliches geographisches Verteilungsmuster. [Nachtrag 2017: die Namenskarten gibt’s auf verwandt.de heute nicht mehr.]
Die Deutung des Namens Eissing als Orts-, Flur- und dann eben auch Gewässername hat gegenüber der patronymischen Namensgebung den Vorteil, die Verbreitung des Namens über ganz Europa besser zu erklären. Auch wird die Tatsache, dass der Name als Orts- und Wassername in allen Karten zu finden ist, besser abgebildet. Dennoch muss die patronymische Namensgebung nicht außen vor bleiben, wenn das "ing" eben nicht im Sinne einer Vater-Sohn-Geschichte gelesen wird, sondern als eine Art- und Typ-Bezeichnung. Auch wir sprechen vom "Sohn des Himmels" oder bei Naturvölkern kann auch ein "Sohn des Bären" oder "Sohn des Adlers" im Sinne eines Totems und Ahnherrn vorliegen. Sohn ist in diesem Zusammenhang eine spirituelle Bestimmung, und besagt nur, dass da einer "von der Art des …" gemeint ist.
Zur Deutung des Namens Eissing ist bis hierhin zunächst nur soviel gewonnen, dass es sich bei dem Eis von Eissing um eine sehr alte, aus der vor-indogermanischen Sprachschicht stammende Wasser- oder Ortsbezeichnung handelt. Dies wiederum macht auch verständlich, warum philologische Interpretationsansätze mit den alten Ortsnamen ihre Deutungsprobleme haben. Nehmen wir nur als Beispiel die Landnahme in Nordamerika. Die in das Land einwandernden Europäer benennen alle Neugründungen mit den gewohnten Namen wie Neu Amsterdam oder New York, aber alte Orte, Fluren, Berge oder auch Siedlungen behalten ihre indianischen Namen. Wenn dann später eine Namensdeutung der indianischen Ortsnamen im Sprachkontext indogermanischer Sprachmuster versucht würde, käme dies zu unerwarteten Ergebnissen. "Unhandled Exceptions" heißt so etwas in der Computer-Sprache.
Vieles und auch neuere Forschungsergebnisse aus Spektrum der Wissenschaften sprechen für Bahlows "vorgeschichtliche Wasser-Wörter". Deshalb will ich zum Schluss noch eine Beobachtung aus der fränkischen Schweiz in Weismain beibringen. Mein Gastgeber und Gesprächspartner, Professor Fink, seines Zeichens Arzt und Jäger in einem 400 Hektar Revier, schimpfte über neue bayerische Naturschutzgesetze entlang der Flussläufe zum Schutze des Eisvogels. Damit hatte Fink mich stutzig gemacht, warum dieser Vogel, im Englischen Kingfisher genannt, bei uns das Eis im Namen hat: Der Eisvogel kann nur an klarem fließendem Wasser jagen, denn er jagt auf Sicht, muss den Fisch unter Wasser sehen können. Vielleicht ist das ja ein Deutungsansatz. In Makatsch "Die Vögel Europas" (S. 333) liest sich das so: "Kopflastige, vielfach sehr bunte kurzschwänzige Vögel mit großem, seitlich zusammengedrücktem Schnabel und kurzen Füßen." Oder: "Ein bunter, langschnäbliger (fast ¼ der Körperlänge entfallen auf den Schnabel!) und kurzschwänziger Vogel, der mit keiner anderen Art verwechselt werden kann." Und dann noch: "Fliegt mit schnellen Flügelschlägen dicht über die Wasseroberfläche hin. Nie gesellig." Zumindest ich kenne mehrere Eissings, auf die obige Charakterisierung sehr gut passt.
Köln, den 10.09.2011
© Uwe Eissing
Zur Person: Geboren 1958 in Papenburg. Zu meinen vierten Geburtstag setzte die große Februarsturmflut die Deutsche Bucht und das Elbegebiet unter Hochwasser - und der Kanal vor unserer Haustür verleibte sich den Sandweg auf unserer Seite des Ufers ein. Bei der Einschulung dann eine weitere Überraschung: Die reden da Hochdeutsch. Seltsam. Bis zum Eintritt ins Gymnasium kam ich mit der Sprache zurecht. Latein kam hinzu. Das große Stufengebet hatte ich als Messdiener gelernt, als der neue Kaplan kam und von der neuen Welt sprach.