1. Das Ende der
Aura
Was dem Kaiser zusteht, das ist ihm zu geben. Nie stand dieser Grundsatz infrage. Schon die Weihnachtsgeschichte beginnt mit der Volkszählung des Kaisers Augustus im ganzen Reich:
Alle müssen reisen und alle reisen. Wo aber endet die Verfügungsgewalt des Kaisers und wo beginnt der Schutzraum des Gotteshauses? Wer die Hörner des Altars im alten Israel umfasst, der darf auf
Schutz hoffen, nicht immer. Kein Asyl, lautete das politische Geschrei der letzten Jahre. Nun hat die Politik gehandelt und das Asyl beseitigt. Gründlichst. Nicht einmal im innersten Raum des Asyls,
dem Gotteshaus, endet der kaiserliche Zugriff. Aber nein, die Sinnumkehr geht noch weiter, denn der Asylraum ist neu gedeutet und als Infektionsraum erkannt.
In den kulturellen Konflikten der Antike treten sich die jeweiligen Götter gegenüber und der Stärkere trägt den Sieg davon. Wenn die Römer sich siegreich schlagen, die Stadt
erobern oder zerstören, so hat sich ihr Jupiter Optimus Maximus als der Stärkere erwiesen. Besser dass die Besiegten die Knie vor seiner Macht beugen, denn die Wahrheit liegt im Faktischen. Nur
einige aus Jerusalem weigerten sich damals, die Zerstörung ihrer Stadt als Tatsache anzuerkennen und begannen, von der himmlischen Stadt zu reden. Wer also ist der Gott der Moderne, der Allmächtige
unserer Zeit, der die Aura des Religiösen, unseren innersten Schutzraum mit einem Fingerschnipp verscheuchen kann?
Die Virtualisierung unserer Arbeitswelt, ja selbst die Virtualisierung der Gesundheitsbehandlung durch die Instrumente moderner Technik ist das Gebot der Stunde. Und das neue
Zehnwort dazu ist schon verkündet: Wahre Distanz! Du sollst neben dir keinen Nächsten haben. Und distanziere dich von deinem Nächsten wie auch du dir selbst fremd gegenüberstehen solltest. Glaube
keinen fremden Göttern, sondern folge den Anweisungen auf deinem Handy, so spricht der Herr, dein Gott. Denn dein Nächster könnte verwirrt oder gar vervirt sein.
Soziale Kälte ist das neue erste Gebot – ausgeglichen durch eine neuartige virtuelle Mächtigkeit. Was in der Arbeitswelt funktioniert, in der medialen Welt sogar als Emanzipation
und mächtige informationelle Teilhabe empfunden werden kann, darf und kann es auf das Zentrum des religiösen Geschehens, das Ritual, übertragen werden?
Dass die virtualisierte Messe eine Gefahr bedeutet, weil sie den Verzicht auf das Ritual, die Vergegenwärtigung des Ewigen und uralten Geschehens, bedeutet, ist mehrfach und von
bedeutender Stelle angesprochen. Und jeder von uns hat dies in den Wochen der Osterzeit schmerzlich erlebt. Meditation, stilles Gebet und Anbetung sind nur ein Trost, denn die mit Macht geforderte
Virtualisierung unseres Lebens zerstört die Aura, das Ritual und damit die Mitte unseres Glaubens.
In den Kriegen der antiken Kulturen stehen sich Götter gegenüber. In den Reformationskriegen treten die Wahrheiten eines Glaubens gegeneinander an. In den totalen Kriegen der
Aufklärer versuchen sich die Weltanschauungen gegenseitig umzubringen. Nun aber hebelt eine säkulare Kultur mit ihren als Apostel und Propheten auftretenden Virologen das Zentrum des Glaubens an Gott
selbst aus.
Oder ist diese Sicht nur die spiegelverkehrte und falsche Wahrnehmung eines neuen, sehr mächtigen Glaubens und gesellschaftlichen Zusammenhalts? In der Osternacht hätten wir die
Lesung aus Exodus gehört, wie der Herr durch Ägypten zieht und wir nur deshalb davonkommen, weil uns das Blut des Opferlamms an unseren Türpfosten geschützt hat, damals am Vorabend des 14. Nissan,
dem Frühlingsvollmond. Corona hat diese alte religiöse Feier und Vergegenwärtigung nicht beseitigt oder abgeschafft, sondern vielleicht ist Corona genau umgekehrt die moderne Feier dieses Auszugs,
nur eben nicht mit altem Text oder als fernes Geschehen, sondern unmittelbar, hier und jetzt und bedrohlich. Wir sind davongekommen, weil wir das Gebot der sozialen Distanzierung gehalten haben und
rechtzeitig mit unseren Masken unsere Türpfosten bezeichnet haben, auf dass Corona an uns vorbeizöge. Wir sind davongekommen, wir die Guten, aber wehe Ägypten, wehe dem Haus des Pharaos. Die Moderne
hinterlässt ein gewaltiges von religiösem Empfinden gesäubertes Haus, ein Vakuum, aber die menschliche Natur erträgt dieses Vakuum nicht, weil die Religion Teil unserer Menschlichkeit, unseres
Menschseins ist. Und so drängen in das kulturelle Vakuum der Moderne neue sinnstiftende Deutungen hinein. Corona ist ein Deutungsvirus, der in neoliberale Vorstellungswelten eindringt und sie
kollabieren lässt.
2. Auszüge aus: "Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit"
Die Zerstörung der Aura ist ein Gedanke von Walter Benjamin. Im Folgenden zitiere ich Walter Benjamin aus seinem Text „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen
Reproduzierbarkeit“; aus: Walter Benjamin: Abhandlungen. Gesammelte Schriften Band I-2, S. 435 ff. (Suhrkamp) 1974.
<4> … Was ist eigentlich Aura? Ein sonderbares Gespinst aus Raum und Zeit: einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag. An einem Sommernachmittag ruhend einem
Gebirgszug am Horizont oder einem Zweig folgen, der seinen Schatten auf den Ruhenden wirft – das heißt die Aura dieser Berge, dieses Zweiges atmen. An der Hand dieser Definition ist es ein Leichtes,
die besondere gesellschaftliche Bedingtheit des gegenwärtigen Verfalls der Aura einzusehen. Er beruht auf zwei Umständen, welche beide mit der zunehmenden Ausbreitung und Intensität der
Massenbewegungen auf das Engste zusammenhängen. Die Dinge sich „näherzubringen“ ist nämlich ein genau so leidenschaftliches Anliegen der gegenwärtigen Massen wie es ihre Tendenz einer Überwindung des
Einmaligen jeder Gegebenheit durch deren Reproduzierbarkeit darstellt. Tagtäglich macht sich unabweisbarer das Bedürfnis geltend, des Gegenstands aus nächster Nähe im Bild, vielmehr im Abbild, in der
Reproduktion habhaft zu werden. Und unverkennbar unterscheidet sich die Reproduktion, wie illustrierte Zeitung und Wochenschau sie in Bereitschaft halten, vom Bilde. Einmaligkeit und Dauer sind in
diesem so eng verschränkt, wie Flüchtigkeit und Wiederholbarkeit in jener. Die Entschälung des Gegenstandes aus seiner Hülle, die Zertrümmerung der Aura, ist die Signatur einer Wahrnehmung, deren
‚Sinn für das Gleichartige in der Welt’ (Joh(annes) V Jensen) so gewachsen ist, dass sie es mittels der Reproduktion auch dem Einmaligen abgewinnt. Es wiederholt sich im anschaulichen Bereich was
sich im Bereiche der Theorie als die zunehmende Bedeutung der Statistik bemerkbar macht. Die Ausrichtung der Realität auf die Massen und der Massen auf sie ist ein Vorgang von unbegrenzter Tragweite
sowohl für das Denken wie für die Anschauung.
<5> Die Einzigkeit des Kunstwerks ist identisch mit seinem Eingebettetsein in den Zusammenhang der Tradition. Diese Tradition selber ist freilich etwas durchaus Lebendiges,
etwas ganz außerordentlich Wandelbares. Eine antike Venusstatue etwa stand in einem durchaus anderen Traditionszusammenhange bei den Griechen, die sie zum Gegenstand des Kultus machten, als bei den
mittelalterlichen Kirchenvätern, die einen unheilvollen Abgott in ihr erblickten. Was aber beiden in gleicher Weise entgegentrat, war ihre Einzigkeit, mit einem andern Wort: ihre Aura. Die
ursprünglichste Art der Einbettung des Kunstwerks in den Traditionszusammenhang fand ihren Ausdruck im Kult. Die ältesten Kunstwerke sind, wie wir wissen, im Dienst eines Rituals entstanden, zuerst
eines magischen, dann eines religiösen. Es ist nun von entscheidender Bedeutung, dass diese auratische Daseinsweise des Kunstwerks niemals durchaus von seiner Ritualfunktion sich löst. Mit anderen
Worten: der einzigartige Wert des ‚echten’ Kunstwerks ist immer theologisch fundiert. Diese Fundierung mag so vermittelt sein wie sie will: sie ist auch noch in den profansten Formen des
Schönheitsdienstes als säkularisiertes Ritual erkennbar. Diese profanen Formen des Schönheitsdienstes, die sich mit der Renaissance herausbilden, um für drei Jahrhunderte in Geltung zu bleiben,
lassen nach Ablauf dieser Frist bei der ersten schweren Erschütterung, von der sie betroffen wurden, jene Fundamente deutlich erkennen. Als nämlich mit dem Aufkommen des ersten wahrhaft
revolutionären Reproduktionsmittels – der Photographie (gleichzeitig auch mit dem Anbruch des Sozialismus) – die Kunst des Nahen der Krise spürt, die nach weiteren hundert Jahren unverkennbar
geworden ist, reagiert sie auf das Kommende mit der Lehre von l’art pour l’art, die eine Theologie der Kunst ist. Aus ihr ist dann weiterhin geradezu eine negative Theologie der Kunst
hervorgegangen, in Gestalt der Idee einer reinen Kunst, die nicht nur jede soziale Funktion sondern auch jede Bestimmung durch einen gegenständlichen Vorwurf ablehnt. (In der Dichtung hat Mallarmé
als erster diesen Standort erreicht.) Diese Zusammenhänge zu ihrem Recht kommen zu lassen, ist unerlässlich für die Betrachtung, die es mit der Kunst, im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit
zu tun hat. Denn sie bereiten die Erkenntnis, die hier entscheidend ist, vor: die technische Reproduzierbarkeit des Kunstwerks emanzipiert dieses zum ersten Mal in der Weltgeschichte von seinem
parasitären Dasein am Ritual. Das reproduzierte Kunstwerk ist in immer steigendem Maße die Reproduktion eines auf Reproduzierbarkeit angelegten Kunstwerks. Von der photographischen Platte zum
Beispiel ist eine Vielheit von Abzügen möglich; die Frage nach dem echten Abzug hat keinen Sinn. Im dem Augenblick aber, da der Maßstab der Echtheit an der Kunstproduktion versagt, hat sich die
gesamte soziale Funktion der Kunst umgewälzt. An die Stelle ihrer Fundierung aufs Ritual ist ihre Fundierung auf eine andere Praxis getreten: nämlich ihre Fundierung auf die Politik.
…
<6> Es wäre möglich, die Kunstgeschichte als Auseinandersetzung zweier Polaritäten im Kunstwerk selbst darzustellen und die Geschichte ihres Verlaufs in den wechselnden
Verschiebungen des Schwergewichts vom einen Pol des Kunstwerks zum anderen zu erblicken. Diese beiden Pole sind sein Kultwert und sein Ausstellungswert. Die künstlerische Produktion beginnt mit
Gebilden, die im Dienst der Magie stehen. Von diesen Gebilden ist einzig wichtig, dass sie vorhanden sind, nicht aber dass sie gesehen werden. Das Elentier, das der Mensch der Steinzeit an den Wänden
seiner Höhle abbildet, ist ein Zauberinstrument, das er nur zufällig vor seinen Mitmenschen ausstellt; wichtig ist höchstens, dass es die Geister sehen. Der Kultwert als solcher drängt geradezu
darauf hin, das Kunstwerk im Verborgenen zu halten: gewisse Götterstatuen sind nur dem Hohepriester in der cella zugänglich, gewisse Madonnenbilder bleiben fast das ganze Jahr über verhangen, gewisse
Skulpturen an mittelalterlichen Domen sind für den Betrachter zu ebener Erde nicht sichtbar. Mit der Emanzipation der einzelnen Kunstübungen aus dem Schoße des Kultus wachsen die Gelegenheiten zur
Ausstellung ihrer Produkte. Die Ausstellbarkeit einer Portraitbüste, die dahin und dorthin verschickt werden kann, ist größer als die einer Götterstatue, die ihren festen Ort im Innern des Tempels
hat. Die Ausstellbarkeit des Gemäldes ist größer die des Mosaiks oder Freskos, die ihm vorangingen. Und wenn die Ausstellbarkeit einer Messe von Hause aus vielleicht nicht geringer war als die der
Symphonie, so entstand doch die Symphonie in dem Zeitpunkt, als ihre Ausstellbarkeit größer zu werden versprach als die der Messe. …
Diese emanzipierte Technik steht nun aber der heutigen Gesellschaft als eine zweite Natur gegenüber und zwar, wie Wirtschaftskrisen und Kriege beweisen, als eine nicht minder
elementare wie die der Urgesellschaft gegebene es war. Dieser zweiten Natur gegenüber ist der Mensch, der sie zwar erfand aber schon längst nicht mehr meistert, genau so auf einen Lehrgang angewiesen
wie einst vor der ersten. Und wieder stellt sich in dessen Dienst die Kunst. …
<14> … Der Chirurg stellt den einen Pol einer Ordnung dar, an deren anderm der Magier steht. Die Haltung des Magiers, der einen Kranken durch Auflegen der Hand heilt, ist
verschieden von der des Chirurgen, der einen Eingriff in den Kranken vornimmt. Der Magier erhält die natürliche Distanz zwischen sich und dem Behandelten aufrecht; genauer: er vermindert sie – kraft
seiner aufgelegten Hand – nur wenig und steigert sie – kraft seiner Autorität – sehr. Der Chirurg verfährt umgekehrt: er vermindert die Distanz zu dem Behandelten sehr – indem er in dessen Inneres
dringt – und er vermehrt sie nur wenig – durch die Behutsamkeit, mit der seine Hand sich unter den Organen bewegt. Mit einem Wort gesagt: zum Unterschied vom Magier (der auch noch im praktischen
Arzte steckt) verzichtet der Chirurg im entscheidenden Augenblick darauf, seinem Kranken von Mensch zu Mensch sich gegenüberzustellen, der dringt vielmehr operativ ihn in ein. – Magier und Chirurg
verhalten sich wie Maler und Kameramann. …
<16> … In die alte heraklitische Wahrheit – die Wachenden haben ihre Welt gemeinsam, die Schlafenden jeder eine eigene für sich – hat der Film eine Bresche geschlagen.
…
<17> …. Dadaismus. Was sie mit solchen Mitteln erreichen, ist eine rücksichtslose Vernichtung der Aura ihrer Hervorbringungen, denen sie mit den Mitteln der Produktion das
Brandmal einer Reproduktion aufdrücken. Es ist unmöglich, vor einem Bild vor Arp oder einem Gedicht August Stramms sich wie vor einem Bild Derains oder einem Gedicht von Rilke Zeit zur Sammlung und
Stellungsnahme zu lassen. Der Versenkung, die in der Entartung des Bürgertums eine Schule asozialen Verhaltens wurde, tritt die Ablenkung als eine Spielart sozialen Verhaltens gegenüber.
…
<18> … Zerstreuung und Sammlung stehen in einem Gegensatz, der folgende Formulierung erlaubt: Der vor dem Kunstwerk sich Sammelnde versenkt sich darein; er geht in dieses
Werk ein, wie die Legende es von einem chinesischen Maler beim Anblick seines vollendeten Bildes erzählt. Dagegen versenkt die zerstreute Masse ihrerseits das Kunstwerk in sich; sie umspielt es mit
ihrem Wellenschlag, sie umfängt es in ihrer Flut. …
<19> … Alle Bemühungen um die Ästhetisierung der Politik konvergieren in einem Punkt. Dieser eine Punkt ist der Krieg. Der Krieg und nur der Krieg macht es möglich,
Massenbewegungen größten Maßstabs unter Wahrung der überkommenen Eigentumsverhältnisse ein Ziel zu geben. …
3. Zusammenfassung
Walter Benjamin schreibt diese Gedanken Mitte der 30er-Jahre im französischen Exil. Der Siegeszug des Faschismus in seiner Epoche hat die ihm bekannte Welt hinweggerissen. Walter
Benjamin versucht, aus seiner Kenntnis der Kunstgeschichte wieder Ankerpunkte für neue Deutungsmuster zu finden.
Die Zerstörung der Aura durch eine inszenierte Reproduzierbarkeit scheint ihm der Kern des Geschehens zu sein. Das, was Benjamin Aura nennt, ist der Kern des Religiösen und er
spricht auch von Messe und der Kraft der Magie. Gut wie er Tradition und Aura in Beziehung setzt. Sein Vergleich des Chirurgen und des Magiers, hier der praktische Arzt, beschreibt gut, warum in der
Corona-Krise Virologen an der Spitze des politischen Deutungsgeschehens stehen können und warum die Zahlen zur Krise nicht aus dem ärztlichen Arbeitsalltag stammen, sondern aus mathematischen
Modellen. Die gesellschaftliche Veränderung, der Verlust der Aura und die Ästhetisierung der Politik, das sind für Benjamin Anzeichen für einen (kommenden) Krieg.
Walter Benjamin selbst hat aus der Krise seiner Zeit keinen Ausweg gefunden, seine Deutungsmuster aber sind ein gutes Erbe, das uns helfen kann, die Corona-Krise besser zu
verstehen und den Charakter der Epochengrenze zu erkennen.